Das Rad der Zeit kann man nur durch die Zeit am Rad aufhalten.

Fest im Sattel

Ein wunderbar velophiler Text von Ernst Sittinger, den ich keinem Freund des Radfahrens vorenthalten möchte.




FEST IM SATTEL, von Ernst Sittinger ©



Radfahren ist die Quadratur des Kreisverkehrs, eine Rost gewordene Symbiose aus verharren und verreisen.

Manchen gilt das Rad als Gottesgeschenk, anderen als Drahteselei.

Eine gedankliche Spazierfahrt auf Fahrradwegen und Abwegen.



Beginnen wir grundsätzlich: Sieht man von seltenen Ausnahmen wie der „Blume aus dem Gemeindebau" von Wolfgang Ambros ab, zählt der Mensch nicht zur Flora, sondern zur Fauna.

Daraus folgt, dass sein Leben aus Bewegung besteht.

Er kann zwar verwurzeln, aufblühen, erstarren, gefesselt innehalten und in der Straßenbahn vorschriftsmäßig die Haltegriffe benützen, aber trotzdem bleibt er der Gattung nach ein rastloser Zugvogel mit unstetem Aufenthalt.


Als Jäger und Sammler übt er seit jeher Tätigkeiten aus, die Ortsveränderung erfordern.

Man muss das betonen.

Denn im Gegensatz zu dieser naturgegebenen Bestimmung stehen wir ziemlich rat- und reglos vor der Tatsache, dass sich der Mensch nicht gerne bewegt.

Vor 12.000 Jahren wurde der Mensch aus Bequemlichkeit sesshaft.


Seither sinnt er nach Mitteln und Wegen, um sein Reisebedürfnis und seine Trägheit unter einen Hut zu bringen.

Lässt man die Erfindung von Kriegsgerät, Spiel- und Werkzeug beiseite, kann man die Technikgeschichte als einen Versuch lesen, Mobilität und Stabilität durch Genialität zu versöhnen.

Bewegung im Sitzen - das ist der Menschheitstraum.

Er hat uns vom Sattel der Pferde bis in den Düsenjet, ins Elektroauto und in den 800 km/h schnellen Hyperloop geführt.

Und der beste Geniestreich auf diesem Weg war zweifellos das Fahrrad.

Womit wir uns wacker strampelnd dem Thema nähern.

Das Fahrrad ist die Verlängerung der Muskelkraft.

Es ist die Quadratur des Kreisverkehrs, die Mission ohne Emission, eine Rost gewordene Symbiose aus verharren und verreisen.

Nur im Radsattel kann man zugleich sitzen, schwitzen und flitzen.

Auf rätselhafte Weise ist das Fahrrad perfekt, es nähert sich asymptotisch der Idee vom klimaverträglichen Perpetuum mobile.


Rahmen, Antrieb, Bremsen, Sattel: Es braucht nicht viel, um die Freuden der muskelbetriebenen Einspurigkeit zu durchmessen.

Seit Baron Karl von Drais 1817 das Laufrad erfand, wurde das filigrane Gerät zwar ständig verbessert, aber das Rad selbst musste noch nie neu erfunden werden.

Vom E-Bike bis zur elektronischen Gangschaltung gibt es jede Menge Schnickschnack, über dessen Sinn man trefflich streiten kann.

Federgabel und Scheibenbremsen sind längst selbstverständlich.

Wer die Sattelhöhe noch von Hand verstellen muss, wird bedauert.

Die Reifengröße ist Anlass für Glaubenskriege.

Doch am konstruktiven Grundkonzept lässt sich nicht rütteln.

Der rautenförmige Diamantrahmen, in Gebrauch seit 1890, ist der beste, auch wenn mittlerweile Hunderte Varianten aus dem üblichen Rahmen fallen.

Moderne Räder funktionieren erstaunlich reibungslos.

Trotzdem müssen sie sich mit den beiden elementaren Bremskräften der Physik herumschlagen: Schwerkraft und Gegenwind.


Das Niederrad, die Luftreifen, die Gangschaltung haben Erleichterung gebracht.

Ausgehend vom Waffenrad der 1930er-Jahre wurde auch das Material immer leichter: Stahl, Aluminium, Kohlefaser.

Gutes Rad ist teuer.

Manches Luxusrad ist heute eine Ansammlung seltener Erden.

Nur böse Zungen behaupten, dass Räder immer leichter, aber Fahrer im labilen Gleichgewicht schwerer werden - „Carbon statt Kondition" heißt es.


Ähnliches gilt beim Gepäck, denn wie der Wanderer trägt auch der Pedalritter schwer an seiner (Aus-)Rüstung.

Nicht jedes Utensil ist nützlich.

Während die Heerscharen der Flussradweg-Fahrer oft halbe Zweitwohnsitze in ihren zahlreichen Taschen spazieren führen oder sich gar mit Anhängern als Sattel-Schlepper betätigen, lautet das Grundgebot für jeden Bergradfahrer nicht nur Kondition, sondern auch Reduktion.

Wenn es steil wird, spürt man jede zusätzliche Zahnbürste und tritt bald am Zahnfleisch in die Pedale.


Wir alle sind Gepäckträger, fahren (manchmal) mit Gepäckträger und werden mit Gepäck träger.

Alpenüberquerer sind froh, wenn sie ihren Kram für 14 Tage in einen Sechs-Kilo-Rucksack zaubern.

Fehlender Komfort kommt vor, aber er ist nicht Bestrafung, sondern Belohnung: Man merkt, wie wenig Zeug man braucht.

Radfahren als Schule des Lebens, als Erleichterung im tragenden, übertragenen Sinn.

Ob man ganz vorne im Wind fährt, hängt von der Gruppe ab, von der Route, der Taktik und der eigenen Kraft.

Manch Windhund hat schon versucht, sich dem Wind im Windschatten zu entwinden.

Man benötigt dann um 30 Prozent weniger Energie, muss aber auf die Vorderleute aufpassen.


Gebremst ist schnell, reagiert wird langsam, auf den Sturz folgt die Bestürzung. Wer sich nicht sicher ist, wann und wie er sich in die Gruppe einfügen soll, der googelt den Begriff „Belgischer Kreisel“.

Radfahren, das Hobby der Einzelgänger, ist ein soziologisch hoch entwickelter Mannschaftssport.


Wie viele Erfindungen sah sich das Rad zunächst von technischen Fortentwicklungen bedroht: Motorrad und Auto drängten die Nichtmotorisierten im 20. Jahrhundert vorübergehend an den Straßenrand.

Doch das Rad war doch nicht jene Sackgasse, für die es viele hielten.

In die Irre der Klimakrise führte uns die Spur des Erdöls, und der Wind in Sachen Radfahren hat sich bald gedreht.

Doch der politisch-gesellschaftliche Gegenwind aus Teilen der Gesellschaft blieb.

Bei den Radlosen aller Fahrzeugklassen ruft die Existenz der flinken Leisetreter jede Menge Ärger hervor.

Der Platz auf der Straße ist begrenzt, mit Schwächeren teilt man ungern.

Wer Lärm und Gestank des Autoverkehrs liebt, dem gilt das Radfahren als überflüssige Drahteselei.

Abstand und Anstand an der Bordsteinkante sind manchmal knapper, als man denkt.


Aber auch in umgekehrter Richtung gibt es Charakterschwächen.

Kein Radler fühlt sich gerne als Freiwild, aber manche fühlen sich freier und wilder, als es erlaubt.

Kreuz und quer über Kreuzungen, großspurig mehrspurig nebeneinander, bei Rot über die Ampel und bei Stau auf den Gehsteig: Wer hat es noch nie gemacht?

Übermut kann man nicht kaufen.

Und kaum kontrollieren.

Wer kein Kennzeichen hat, hat wenig zu befürchten.

In Wahrheit gefährdet jede Frechheit unsere Freiheit.


Doch wer fest im Sattel sitzt, den bringt nichts so schnell aus der Balance.

Eingefleischte Radler wissen ihren Status zu schätzen und zu schützen.

Das Rad ist von allen Verkehrsmitteln das am wenigsten verkehrte, es hat (fast) kein Klimaschutz-Problem.

Damit nicht genug, ist es auch eine Quelle steter Gesundheit: Wer regelmäßig pedaliert, ist fitter, hat einen stärkeren Kreislauf und bessere Abwehrkräfte.

Denn wie heißt es unter Radlern?

Das Rad der Zeit kann man nur durch die Zeit am Rad aufhalten.